802 Jahre Cunewalde 1222 - 2024

Trichinosejahr 1888


Die große Tragödie - ein ganzes Dorf im Schatten des Todes

Die Freiwillige Feuerwehr Obercunewalde hielt, wie in jedem Jahr üblich, am 3. Weihnachtsfeiertag 1887 in der "Oberschänke", später "Gasthof Heymann" genannt, ihren Feuerwehrball ab. Eine dieser geselligen Veranstaltungen, zu der sich die Wehr samt geladener Einwohnerschaft und Abordnungen der Nachbarwehren jährlich zusammenfand, um bei einem guten Trunke, flottem Tanz und reichlich eingestreuten, meist humorvollen Darbietungen die Kameradschaft zu pflegen. Auch dieser Abend verlief, so wurde berichtet, wie immer sehr harmonisch und brachte den Beteiligten vergnügte Stunden. Bis weit nach Mitternacht herrschte wie in jedem Jahr auch die nötige Hochstimmung, wie es in jenen Zeiten bei den Festen der Feuerwehr eigentlich immer der Fall war. In den Tanzpausen pflegte man ab und zu auch einen kleinen Imbiss einzunehmen, schon deswegen, um damit Gegenmaßnahmen zum reichlichen Genuss von Bier und billigem Branntwein zu ergreifen. Für wenig Pfennige wurde damals schon ein halbes Seidel "Gemengter" gehandelt und für einen Liter einfachen Kornschnaps zahlte man gerade mal 17 Pfennige. Für den Gaumen seiner Gäste hatte der Wirt auch bestens vorgesorgt.

So lag auf dem Tisch ein riesengroßer Berg verlockend schöner Räucherwürstel, die man damals "Broatwürschte" nannte. Der Duft dieser Würste ging allen Gästen natürlich sofort in die Nase und so fanden diese auch reißenden Absatz. Einer machte den anderen darauf aufmerksam und "gelüstch". Paarweise stand man um die Theke herum und lobte die wirklich schmackhaften Bratwürste. Einige besonders gut gelaunte Wehrmänner sollen sogar ein Wettessen veranstaltet haben und verdrückten ein gutes Dutzend von dieser Sorte. Wer hätte bei jener Fröhlichkeit zu diesem Zeitpunkt geahnt, dass die leckeren Würstchen den Todeskeim für so viele Menschen in sich trugen. Und so war der Vorrat an Bratwürsten auch viel zu zeitig ausverkauft und mancher Feuerwehrkamerad war ärgerlich, warum sich der "Schänker" August Bär, Vater des später hier in Cunewalde amtierenden Ortspfarrers Herrmann Bär, nicht besser damit eingedeckt hatte. Keiner ahnte, dass er selbst und seine Angehörigen, für die man gewöhnlich gern einige solcher Würste mit heimnahm, dadurch dem Tode entrannen. Weil der Wirt der "Oberschänke" in jener Zeit gerade keinen Fleischer eingestellt hatte, bezog er die Räucherwürste vom Fleischer Angermann, dem damaligen Besitzer der Gastwirtschaft "Zur Wartburg", auch als "Hobel" bekannt. Angermann selbst hatte zu Beginn der Weihnachtsfeiertage in seinem Laden dieselben Würstchen auch schon reichlich verkauft und somit auch viele seiner Stammkunden mit den sehr trichinös verseuchten Fleischwaren infiziert.

Immerhin seltsam ist das Erlebnis eines Handwerksmeisters, der zweimal dem sicheren Tode entging, weil er zweimal durch besondere Umstände nicht in den Besitz der trichinösen Bratwürste gelangte. Als er beim Einkaufen der Fleischwaren in Angermanns Geschäft eine Gegenrechnung seines Vaters, der Handwerksarbeiten beim Fleischer erledigt hatte, in Zahlung gab, glaubte sich Angermann übervorteilt und rächte sich, indem er seinem Kunden keine Räucherwürste als Weihnachtszugabe mit in sein Einkaufspaket tat. Beim Feuerwehrball war es diesem Handwerksmeister wiederum nicht vergönnt, an die von ihm begehrten Würste zu kommen. Denn als er sich beim Verlassen des Saales noch welche bestellen wollte, war auch da der Vorrat gerade ausgegangen. Ein wenig verärgert tröstete sich der Betroffene damit, dass er ja seinen Hunger daheim mit gutem Weihnachtsstollen stillen konnte. Wie durch ein Wunder wurde er so vor der Verseuchung bewahrt.

Kurz nach dem Weihnachtsfest wurden nacheinander auffällig viele Einwohner in Cunewalde krank. Bald hörte man aus zahlreichen Häusern die Berichte über eigenartige Krankheitserscheinungen bei den Familienangehörigen. Niemand erkannte die Ursachen der beginnenden Epidemie. Nach dem Jahreswechsel mehrten sich die Fälle, so dass man ziemlich ratlos der eigenartigen Krankheit gegenüberstand. Der damalige Ortsarzt Dr. Restel stand teilweise den Dingen gleichfalls hilflos gegenüber. Man hielt es allgemein für das "Schleichende Nervenfieber", einer Krankheit, die in den vorangegangenen Jahrzehnten auch schon ähnlich, aber viel vereinzelter aufgetreten war. Ein damals in Niedercunewalde praktizierender Heilgehilfe namens Huste, er praktizierte und wohnte in der Nähe der Kirche beim "Kaufhaus Bläsche", erkannte wohl als erster den wahren Grund all der unzähligen Erkrankungen. Aus Erfahrungen, die er im Erzgebirge bei gleichartigem Auftreten gesammelt hatte, kennzeichnete er die Erkrankungen als Trichinose. Seinen Angaben schenkte man zuerst gar keinen Glauben. Er musste sich heftigen Angriffen entgegenstellen, denn man wusste damals von Trichinen und deren furchtbaren Auswirkungen noch so gut wie nichts.

Eine gesetzliche Fleischbeschau gab es noch nicht. Wer ein Schlachtvieh untersuchen ließ, tat dies freiwillig. Das Schwein, das Fleischer Angermüller vom damaligen "Kleppermüller" Louis Hebold trotz dessen eindringlichen Abratens, weil es am ganzen Körper unzählige Grinde und schwärende Stellen hatte, gekauft hatte, war ein völlig trichinös verseuchtes Tier gewesen. Angermann selbst hatte keine Fleischbeschau durchführen lassen, weil er der Meinung war, für die Wurst sei es gut genug. Durch diese, zu jener Zeit nicht einmal strafbare Fahrlässigkeit wurde so unfassbares Leid in die Gemeinde und in Dutzende von Familien gebracht. 38 Menschen, davon über 30 aus unserem Cunewalder Tal, größtenteils im besten Alter, fielen der nun ausbrechenden Trichinose zum Opfer. Die Krankheitsfälle häuften sich, zumeist wurden die Befallenen plötzlich bettlägerig, konnten ihre Glieder nicht mehr bewegen, empfanden nicht einmal besondere Schmerzen, sondern nur eine Art von Körperschwäche ohnegleichen. Dazu gesellte sich völlige Appetitlosigkeit. In einzelnen Fällen äußerte sich die Trichinose ganz anders, indem die Gliedmaßen unförmig anschwollen und die Kranken über große Schmerzen klagten, so dass selbst das Umbetten unter größter Vorsicht erfolgen musste. Der schlimmste Kranke, der dermaßen dicke und aufgeschwollene Beine und Arme bekommen hatte, dass er wohl beinahe unkenntlich war, soll der damalige Inspektor des Rittergutes, Herr Willkomm, gewesen sein. Obwohl man gerade ihm den Tod viele Male vorausgesagt hatte, überstand er die Trichinose und starb erst im Jahr 1924. Auch Gastwirt Kocksch, Inhaber des Gasthauses "Finke" im Mitteldorf, auch "Friedensburg" genannt, starb nicht an der Seuche. Ebenso der "Ahle Wächter Wagner", Vater von dem Cunewalder Einwohner Erdmann Wagner und Frau Pauline verw. Neitsch (Kohlen Neitsch-Pauline), die mit zu den am schlimmsten erkrankten gehörten, überstanden nach langem, schmerzhaftem Krankenlager die Seuche. Letztere benötigte angeblich bis zu 18 Wochen, ehe sie genesen war und erschütternde Eindrücke aus jener furchtbaren Zeit zu berichteten vermag.

Die Ärzte wussten sich keinen Rat und die Geistlichen eilten von Krankenlager zu Krankenlager. Mitte Januar begann das große Sterben. Vier Wochen lang breitete der Tod seine schwarzen Schatten über Obercunewalde aus und auch aus den Nachbargemeinden wurden Nachrichten laut, dass gleichartige Erkrankungen bei Leuten eintraten, die das Fest besucht oder Würstchen von Angermann gegessen hatten. So stand wenigstens die Ursache allen Elends eindeutig fest. Aus mehreren Quellen war in dem Zusammenhang dann auch zu erfahren, dass den Todkranken "Benzin" als einzig wirksames Mittel eingeflößt worden sei. Ob dem wirklich so war oder ob es sich um ein anderes Medikament gehandelt hat, mit dem man eine Art Pferdekur versucht hatte, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen bzw. aufklären. Fest steht aber zweifellos, dass auch Patienten, die das "Benzin" nicht einnahmen, dennoch die Krankheit überstanden. Am 15. Januar starb als erstes Opfer der Trichinose Herr Plitschke, Sohn eines Kamm-Machers aus dem Mitteldorf, der als Fuhrknecht bei einer Oppacher Firma tätig war und sich bei seiner Schwester in Obercunewalde aufhielt. Nach anderen Angaben wurde auch der Lohnherr dieses Herrn Plitschke, ein angesehener Oppacher Bürger, durch die Würste vergiftet und kämpfte so lange Zeit mit dem Tode. Schon am 16. Januar läuteten die Sterbeglocken zum zweiten Male. Traugott Tilger war eingeschlafen. Nach seinem Tode wurden angeblich von ärztlicher Seite, aber vor allem auf Betreiben des Heilgehilfen Huste, in einer Muskelfleischprobe von Erbsengröße fast 100 Trichinen festgestellt. Leider sind diese Angaben nicht amtlich belegt. Glaubwürdig sind diese aber durchaus, denn die überaus riesige und schnelle mengenmäßige Vermehrung der Trichine gehört ja zu den Rätseln dieses sowieso eigenartig lebenden Organismus, einem der gefährlichsten Schmarotzer.

Nun verging fast kein Tag, an dem nicht jemand im Dorf an den Folgen der furchtbaren Krankheit verschied. Am 19. Januar schloss August Mitschke die Augen, der damit zugleich der erste Tote der Feuerwehr war, die insgesamt 8 Kameraden einbüßte. Tags darauf, am 20. Januar, erklangen die Glocken für Ernst Israel, damals wohnhaft an der Wuischgasse. Er soll vermeintlich einer von denen gewesen sein, die an dem Wettessen in der "Oberschänke" teilgenommen haben. Am 21. Januar folgte dann Frau Domschke, die Ehefrau des Verwalters auf dem Hofe. Die nächste war Frau Selma Wendler aus dem Haus gegenüber der "Kleppermühle". Die Bevölkerung konnte aufatmen, als drei Tage lang die Totenglocke schwieg. Kaum aber hatten sich die dunklen Erdschollen über den Särgen aller zuletzt Dahingegangenen geschlossen, wanderten bereits wieder zwei Seelen ins Jenseits. Am 26. Januar eilte die Trauerkunde durchs Dorf, dass "Firnanz-Christel" (Ferdinands Christel), die Tochter von Ferdinand Müller, Christiane Müller und Frieda Angermann, die Tochter des Trichinenfleischers, wie man später Angermann dann nur noch nannte, gestorben seien. Am 27. Januar gaben der Hausbesitzer Karl Trompler (Bärshäuser) und Wilhelm Manitz, genannt "Moantz Schuster" aus’n "Eechbusche", der damals die Halbauer Schankwirtschaft gepachtet hatte, ihren Geist auf. Ärzte und Pfarrer leisteten Übermenschliches an pflegerischer und seelsorgerischer Betreuung. Wenn man auf die Straße sah, gingen schwarz gekleidete Menschen durchs Dorf. Die Ritschelfenster wurden zugeschoben, damit ja keiner der Kranken die Leichenbegräbnisse draußen vorüberziehen sehen konnte und seinen eigenen nahen Tod nur deutlicher empfand. Aus diesem Grunde, und um noch eine größere Beunruhigung der Bevölkerung und vor allem der erkrankten Menschen zu vermeiden, wurden sowohl das Trauergeläut, als auch das Posaunenblasen, bei Beerdigungen eingestellt.

In grausiger Stille walteten die Feuerwehrmänner ihres schweren Amtes und trugen einen nach dem anderen auf den Gottesacker. Am 28. Januar verstarb Frau Ernstine Bär, die Gattin des Gastwirtes der "Oberen Schänke", am 29. Januar Herr Kubiss aus (Bärshäuser) und am 30. Januar Gotthelf Kocksch, der Bruder von Johanna Kocksch, genannt "Harigs Hannel". Der Tod hielt auch im folgenden Monat reiche Ernte. Das sonst so fröhliche Cunewalder Dorfvolk stand ganz und gar unter dem Eindruck des Massensterbens. In den Häusern, aus denen sonst bis in die Nacht hinein das laute Tschumpern des Handwebstuhls erklang, saßen jetzt bedrückt die Familien zusammen, weinten um ihre Verstorbenen oder verzehrten sich in Sorge um die noch Kranken. Tatenlos mussten sie zuschauen, wie ein Leben nach dem anderen erlosch. "Viele Tausende Ellen Leimd wurden versäumt", erzählte ein Zeitgenosse jener Unglückswochen. Der erste Tote im Februar war "anne gruße Leiche". Der Gasthofbesitzer und Feuerwehrhauptmann August Bär folgte am 2. Februar seiner Gattin nach. Die Feuerwehr verlor ihren bewährten Führer, die Gemeinde einen hoch angesehenen Bürger. Auch die Familie des Fleischers Angermann wurde selber schwer heimgesucht. Am 3. Februar büßte der Fleischer seine Mutter, Frau Angermann und seine Schwester, Marie Angermann ein. Am 6. Februar verschied Ernst Eger, am 7. Februar seine Ehefrau, damals allgemein als "Lucks Helfs" bekannt. Das Ehepaar wurde gemeinsam beerdigt. Da es an Trägern mangelte, wurden die Wehrmänner der Feuerwehr Cunewalde zu dieser Bestattung aufgefordert, die gerne diesen letzten Liebesdienst erwiesen. Die durch den Tod der Eltern verwaiste Martha Bär folgte Vater und Mutter am 9. Februar nach. Unser späterer Pfarrer Herrmann Bär verlor somit durch die Trichinose nicht nur die Eltern, sondern auch seine Schwester. Er selbst wurde nach Hochkirch in Pflege gegeben, wo er aufgewachsen ist. Auch "Lucks Helfs" Kind, das Mädchen Eger (Vorname unbekannt), überlebte ihre Eltern nur um eine kurze Woche. Sie starb am 13. Februar. Am gleichen Tag schloss Ernst Hauptmann, Bruder des Traugott Hauptmann, seine Augen.

Schmerz und Not kannten in Cunewalde keine Grenzen mehr. Man fürchtete sich gleichsam zur Arbeit zu gehen, weil man stets damit rechnen musste, bei der Heimkehr das Ableben eines lieben Bekannten oder Verwandten zu erfahren. Schon Ende Januar ward dem so schrecklich heimgesuchten Dorf etwas behördliche Hilfe zuteil. Ärzte und Pflegerinnen von auswärts trafen ein und nahmen im Herrenhaus vom Schloss bei Familie von Polenz Quartier. Aber auch sie konnten leider nicht verhindern, dass insgesamt 38 liebe Menschen dieser unsagbar schrecklichen Tragödie zum Opfer fielen.

Quellen: Ortschronik Cunewalde, Familie von Polenz, Kurt Schöne, Torsten Hohlfeld